Schwarzstadt - Nord

Ein Außenstehender kommt nach Heilbronn. Statt des mittelalterlichen heilenden Brunnens und den erwarteten Geranien vor der Sandsteinbalustrade um ihn herum findet er eine Stadt vor, die im Krieg fast komplett zerstört und in den fünfziger bis siebziger Jahren auf altem Stadtplan wieder aufgebaut wurde. Und Heilbronn ist die Stadt, die es dem Konstrukteur des zweitgrößten Lebensmitteleinzelhandelskonzerns ermöglicht hat ca. ein Viertel der Bundesbürger mit preiswerten Nahrungsmitteln zu versorgen. Eine Handelskette als Pacemaker in Sachen HartzIV-Warenkorb und Erzeugerpreise (Produktionsbedingungen). Eine Handelskette, die es den Bundesbürgern ermöglicht im internationalen Vergleich einen deutlich unter dem Durchschnitt liegenden Teil des monatlich verfügbaren Einkommens für Essen und Trinken auszugeben und sich bis tief in bildungsnahe und in wohlverdienende Schichten hinein ins nahrungmittelökonomische HartzIV-Koma zu begeben. Also kommt eine Person aus der ökonomischen Provinz Berlin in eines der Zentren des gesellschaftlichen Geschehens. Damit kehren sich schleunigst die eingeschliffenen Begriffe von Metropole und Provinz um. Die Ausstellung findet in einem Eckladen statt. Der Autorin kommt die Lage des Ladens gelegener als das frühere wunderschöne Domizil des Hagenbucher, das zur Zeit mit Hilfe der Einnahmen aus der Lebensmitteleinzelhandelskette in ein Science Erlebnis Centre umgebaut wird. Der Laden liegt in einem Quartier, das mit Bundesmitteln und den entsprechenden Auflagen aufgewertet werden soll. Deshalb färbte man die Bürgersteige gelb, während in der alten Fassung Autos mit zwei Beinen in aufgemalten Feldern von halber PKW-Breite auf einem flachen Gehsteig parkten. Manchmal wurden die Gehwegplatten nach einer Kanalbautätigkeit in achtloser Reihenfolge zurückgepflastert, so dass über den Gehsteig verteilt ein unregelmäßig lockeres Muster weißer Streifenabschnitte entstand. Dem Eckladen diagonal gegenüber liegt ein Karrêe, in dem sich der Stadtteil, die Nordstadt, zu verdichten scheint. Die Gebäude gleichen im Stil den Gebäuden der ganzen Stadt, und sie gleichen den Gebäuden in der Kölner Innenstadt, Düsseldorf oder Pforzheim. Es sind funktionale dünnwandige Baukörper, die etwas ausstrahlen. Vielleicht Stolz oder Erleichterung, dass diese Gebäude Ende der 60er Jahre endlich wieder da waren und Normalität erzeugten. Diese Baukörper scheinen von zaghafter Genugtuung zu sprechen, wieder eine Stadt zu haben, eine die man auf der Scham, aber immerhin selbst gebaut hat. Baukörper, die
den Betrachter dadurch anrühren, dass sie sich mit wenig zufrieden geben. Und wenn man sich mit den Jahren an die vielen umbauten Kubikmeter gewöhnt hat, die man als langzeitberliner Mieter bewohnt, werden diese Baukörper mit ihren kleinen Individualisierungen, die sie enthalten, zu etwas anderem als dem Missachteten, das sie in den Jugendjahren in Köln gewesen waren. Einige der Gebäude haben neue Sockelverkleidungen bekommen, oder Dachgauben. Die Anzahl der Anbauten wuchs, Unregelmäßigkeiten werden in die Pflege mit einbezogen, ein Wasserrohr, das einen Klinkersockel durchstößt, ist farblich angepasst und ordentlich eingeputzt. Die Höfe sind meist als Autostellplätze asphaltiert oder mit Betonsteinen gepflastert. Die Oberflächendeckung legt sich um begrünte Flächen. Man fragt sich, was ist hier gewollt, und was ist einfach so, weil es so ist, und was ist möglicherweise einem Mangel an Mitteln geschuldet. Das Zentrum des Karrêes bildet nun ein Vakuum, denn die Scheune, die dort als weitgehend letzte Teilüberlebende aus Vorkriegszeiten stand, ist gegen den Widerstand der Bürgerbeteiligung inzwischen verschwunden. Um die Leere gruppiert sich eine dichte Mischung Stadt. Ein Hochhaus, ein Laden für gebrauchte aber noch zugelassene Spielautomaten, eine große türkische Bäckerei mit Moschee im Obergeschoss, ein Jugendwohnprojekt, ein verbarrikadiertes Haus, ein Modellbaugeschäft und viele moderne Mercedes aus denen verschleierte Frauen mit Händy steigen. Ein Teil der Gebäude ist in Eigentumswohnungen umgewandelt. In den Fotos und dem Modell entschloss die Besucherin sich, sich der Poesie des Karrées möglichst illusionslos anheim zu geben. Sich der Faszination hinzugeben, dass ein Ort sich vermutlich selbst als komplett durchschnittlich und alltäglich, nicht-Erwähnenswert versteht, um gerade in dieser Selbstvergessenheit und seiner verschämten Zartheit Kraft und Wirkung zu entfalten. In gesellschaftlich erstrebenswerteren Ambienten sieht man die Menschen oft als Staffage oder als Visualisierung eines Problems mit Tüte in der Hand durch die Herrlichkeit schleichen, während hier um dies Karree herum einfach Menschen die Bürgersteige entlanggehen, erkennbare Charaktere. Frei in dem Sinne, dass sie als Personen klar sind und keinem Ambiente dienen. Es wird Fotos, ein Modell und vielleicht einen Teppich zu sehen geben. Biografie Sibylle Hofter lebt seit 1982 (mit einer größeren Unterbrechung) in Berlin. Sie beschäftigt sich mit Installation und nicht mehr so viel mit Film, kuratiert manchmal und schreibt gelegentlich. In jüngerer Zeit konzentriert sich ihre Arbeit zunehmend auf Fotografie (z.B. Bild Agentur Schwimmer). Seit etwa 20 Jahren hat sie nichts mehr erfunden. Die Oberfläche (und gegebenenfalls auch das, was zu ihr führt) ist etwas, das sich ganz genau beobachten lässt.

Sibylle Hofter Mai 2009