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MATRATZENGÄRTEN

Februar 1996



MATRATZENGÄRTEN

Split. Am frühen Sonntagmorgen erreichen wir Split mit dem Schiff. Anstatt des erwarteten Militärhafens die liebenswürdige Milde eines adriatischen frühen Sonntagmorgens. Das herankommende Licht illuminiert den hellen Kalkstein, aus dem in früheren Zeiten gebaut wurde, und reflektiert in schlafenden Scheiben.

Ein oktogonales Gotteshaus in einer Art Agora. Säulenreihen, Stufen und die Zeit machen sie zu einem Innenraum unter freiem Himmel. Zuerst kommen die Frauen vom Lande und breiten weniges Grünzeug oder Windeln, Kaffee und Schokolade auf den steinernen sozialistischen Markttischen aus, dann kommen auch die Männer und stehen vor dem Café Pazar (Markt) herum. Drinnen wurde investiert, die bekannten vermessingten, plüschbezogenen Barhocker auf spiegelndem Einheitsmarmor. Die noch unbenutzte Terrasse vermonoblockt . Ansonsten alles beim alten, die Kippen, die Kaffees, die Kurzen, und vor allem die Gesichter, der Geruch. Musik von "Crvena Jabuka"(?) (Roter Apfel), einer Rockband aus Sarajewo. Ein Mann bei der kroatischen Armee (Sieg Heil), der andere, sympathischere, bei der Ustascha, 6 Monate im Jahr in der Bar und sechs in der Ustascha * (>>> wikipedia). Der Soldat, als Muslim in Sarajewo geboren, hat einen kroatischen Paß, er zeigt auf die zahlreichen muslimischen Gäste der Kneipe. Die meisten hier haben mehrere Jobs, Militär ist besser bezahlt. Nachdem wir am Flughafen unseren IFOR-Ausweis abgeholt haben, fahren wir mit einem Kölner Linienbus zurück. Aufkleber weisen noch fünfsprachig auf 60 Mark erhöhtes Beförderungsgeld, auf die Klingel für alleinreisende Frauen mit Kinderwagen und auf den Taxibestellservice nach zwanzig Uhr hin. Auf dem Gerippe des Fahrscheinautomats sitzt ein Fahrgast. Wir lassen Köln durch Palmen und mediterran verschlossene Einfamilienhäuser gleiten - rumpeln. An einer weißen Fläche tief unten am Hafen, gebildet von dicht zusammengestellten UN-IFOR-Fahrzeugen, springen wir heraus. Vorbei an einem etwas abgelegenen Slum, öffnen die frisch verschweißten Ausweise für uns zum erstenmal eine gut bewachte Schranke in das umfunktionierte Hafengelände. Der britische 2. Offizier möchte uns die Versorgungslogistik erklären: Das eigentlich zur Überholung ausrangierte Schiff liegt seit vier Jahren hier, und die Fahrzeuge sind sämtlich ramponierte Remittenden, Panzer mit fehlenden Ketten und Autos, die jemand im ungewohnten Rechtsverkehr in den Graben gesetzt hat.

Zurück in die Stadt mit einem Schuhhaus-Kämpgen-Bus, wo in Köln für uns Kinder, für meinen Bruder und mich, 1 x pro Jahr Schuhe gekauft wurden.

Nachts schwemmen gut gekleidete Jugendliche in die Altstadt.


Die wohlständigen Häuser an der Küste sind teilweise statt mit der erwarteten Rasenfläche mit Kohl- und Salatköpfen umringt. Im Bus kroatische Musik mit Strandclips.

Nach der Grenze Bosnien-Herzegowina (BiH) fangen die Reisenden an zu scherzen, bevor ein paar Kilometer weiter das Schweigen angesichts der ersten zerschossenen Häuser beginnt. Keine Musik mehr. Vor mir fotografiert und schluchzt eine Norwegerin. Einzelne Häuser in Dörfern sind, nicht erkennbaren Zeichen folgend, zerschossen. Solche mit Stahlbetondecken knickten manchmal einfach zur Seite weg. Danach sind Leute gekommen und haben alles Brennbare rausgeholt, sogar die Fensterrahmen rausgerissen. Was ist das für ein Gefühl, den Wohnzimmerschrank des Nachbarn zu zerlegen und in den Ofen zu stecken? Manche haben an ihren wenig zerstörten Häusern die Geschützeinschläge mit rötlichem Beton verschmiert. Einzelne wenige kommen in der Sonne in ihre Ruinen und räumen auf. Der Bus gleitet durch die Dörfer, der Fahrer scheint erstarrt wie seine Gäste. Er gleitet durch ein fahrendes Kino, jeder schaut. Ein Kino mit sechzehn verschiedenen Kameras.

Mostar breitet sich diesseits und jenseits der ersten Bergenge am Eingang des Gebirges aus. Am Rande der ausgeschütteten, wüst besiedelten Industrievorstädte, die heute nur noch entlang der pistenartigen Straße belebt sind, gibts am IFOR-Lager im Vorfrühling Stände mit volkskunstartigen gedrechselten Gegenständen. Wir müssen einen geschenkt nehmen. Der Fahrer bringt einen invaliden Reisenden in eine enge Altstadtstraße; alte kleine Gemäuer ohne Dächer, die Schule ist aus, viele Menschen in der Sonne. An der berühmt gewordenen Behelfsbrücke wälzt sich unser überlanger Kubus zum Wenden.

In den Bergen gibt es intakte Gebiete mit Moscheen oder auch Kirchen. Der Fahrer setzt gefühlvoll auf die UN-Pontons und Behelfsbrücken auf, Granateinschläge umfährt er vorsichtig. Hinter der Wasser- und Klimascheide zwischen Adria und schwarzem Meer beginnt nochmal der Winter. Ein Wasserrad, in das leere Coladosen als Schaufeln montiert sind, dreht einen Lammspieß vor einem Restaurant und versorgt den Inhalt des Reisebusses mit Gegrilltem. Verabredungsgemäß bekommt der Fahrer an jeder Station umsonst zu essen. Nach dem wasserradgedrehten Hammel wird der 'Hölzerne Kung-Fu Shaolin Mann' in den Videorecorder gelegt. Durch die zerstörten Dörfer gleiten wir in einem Wechselspiel frömmelnder Nonnen, alter Chinesen und kulminierendem tretendem und schlagendem Gestöhne. Der Geräuschemacher war vielbeschäftigt und schlechtbezahlt und läßt ohne Unterlaß Fäuste auf imaginäre Körper knallen. Der Fahrer, dem dieser Genuß naturgemäß vorenthalten ist, mischt Jimi Hendrix´ Hey Joe dazu.


Sarajewo 12.2. In Ilidza sitzen Menschen im Schnee vor dem ehemaligen hölzernen Kurbahnhof in der Dämmerung an Feuern, die in Papierkörben brennen. Sie warten auf Kundschaft für ihre aus Colaflaschen und Wasserkanistern handelnde Tankstelle. Andere stehen dabei. Die breite Allee, die in der Welt als 'snipers allee' bekannt geworden ist (hier heißen sie Snajper), verbindet Flughafen, Sonntagsausflugs-Ilidza und angelagerte Trabantenstädte, Industrie- und Bürogebiete mit der kompakten Innenstadt am Ende des Tals.

Durch die Dämmerung an dunklen zerschossenen Bürotürmen und halbbewohnten Blocks vorbei. Einige Balkone sind Lager von Zwiebeln, Wasserschüsseln und Schränken oder mit Feuerholz zugestapelt. Der Bus hält für uns an dem überdimensionierten gelb-rosa Kasten des Holiday Inn. Seine Zerstörungen, gepaart mit der monströsen Absurdität der Architektur, vergönnen mir taschenschleppend den ersten Lacher dieses Tages.

Wir überqueren die Rennstrecke zum mächtigen ausrangierten Eingang des Gebäudes und finden schließlich auf der Rückseite eine in Spanplatten eingenagelte Zimmertür als Eingang zu dem Etablissement, vor dem nicht einmal der Schneematsch zur Seite geschoben wurde.

Der niedrige, nur mit wenigen Birnen beleuchtete Raum ist voll von rauchenden Uniformierten neben wenigen Zivilsten, durchlaufenden IFORs und einheimischem Wachpersonal, das auf modernistischen lilafarbenen Sesseln sitzt. Über den verdreckten Teppichboden ist teilweise grauer Kunstrasen gelegt.

Durch eine weitere kleine Türe gelangen wir in die gigantisch kalte achtstöckige Halle. Die freistehende Bar mit den gleichen Lilasesseln in ihrer Umgebung wird von einem riesigen gestreiften polnischen Ostseesonnenschirm in lichter Höhe von etwa 15 Metern gekrönt. Eine lustlose geschminkte Frau wischt mit einem Handtuch herum, als würde sie gleich schließen. Weil sich jedes Geräusch in dieser fast schwarzen, kaum beleuchteten Halle verliert, schleichen die Geschäftsreisenden und Journalisten auf ihrem Boden als Geister in Gruppen herum. Trotz der gigantischen Preise (300 DM für ein Einzelzimmer und 400 für unser Dreierzimmer) ist die Glasfront großflächig mit der Gewebefolie des Flüchtlingshilfswerks UNHCR abgeklebt, dessen Insignien uns schon horizontal und vertikal aus hunderten von abgeklebten Fenstern entlang der Straße angeschaut hatten. Hinter den als Waschbetonsäulen gestalteten Fahrstuhlschächten hat sich die Rezeption in einem geheizten grünlackierten Verschlag verschanzt. Unwillig wird eine Luke geöffnet, von der Reservierung weiß man nichts, Dreierzimmer sind aber frei. Am Telefon am counter berichtet ein Engländer von einer Firma, die im Krieg Särge hergestellt und sich nun mangels Nachfrage auf die Produktion von Türen umgestellt hat. Wir schleppen unser Zeug via Fahrstuhl in 737. Auf dem Flur sitzt ein uniformierter Wachmann auf dem Lilasessel neben rotem Feuerlöscher und der Edelstahl-Fahrstuhlverkleidung mit Einschüssen. Er grüßt stumm zurück. Kaum eine Birne brennt in den gelben Fassungen. Die zerrissene resedagrüne Tapete und der fleckige verblichene Teppichboden verschlucken jedes Geräusch. 737 ist ein großes ehemals High-Standard-Zimmer wie hunderttausend andere auf der Welt. Es ist nur mit zwei 40- Wattbirnen unter schiefhängenden Lampenschirmen und notdürftig wieder befestigter Deckenverkleidung beleuchtet. Die einzige Aussicht, die 737 durch aus dem Rahmen fallende Isolierverglasung bietet, sind die Wachmänner auf jedem Flur und der keuchende Fahrstuhl jenseits des Lichthofs. Der Fahrstuhl als Frequenzpegel für die einlaufenden unsichtbaren Gäste.

Der erste abendliche Weg führt durch unbeleuchtete Straßen. Rasende Autos mit neuen EU-Nummernschildern und glänzend verzinkte Müllcontainer vor unzerschossenen Läden und zerschossenen, die ebenso komplett leergeräumt sind wie die Häuser der Dörfer. Vorbei an einem Bodybuilding und Teak-Won-Do-Studio, vor dem amerikanische EB-Teams stehen und auf Nachrichten von Holbroke, der wohl nebenan zu Gast ist, warten.

Nicht nur der inzwischen desolate Futurismus der Einfahrt zur Stadt, sondern auch die fiktive Rekonstruktion der Altstadt sind dem Bauboom zur Winterolympiade 84 zu verdanken. Damals wurden die morschen Kleingeschäfte durch akzeptable Kleingeschäfte ersetzt. Der Wirt unserer ersten Cevapcici mutierte seinerzeit vom Betreiber der chemischen Reinigung am selben Platz zum Gastronomen. Er heizt, und wer überhaupt kommt, sitzt lange bei ihm herum. "Bei Euch ist die Wand kaputt" beantwortet er die Information, daß wir aus Berlin kommen. Nach einem Granateneinschlag 1994 hat er das Dach repariert. Im Krieg ist alles teuer. Während der Belagerung hat er 150.000 Mark verbraucht, die er vorher im Mißtrauen gegenüber dem Dinar zuhause angespart hatte. Er sagt, er könne nicht in den serbischen Teil gehen, weil hier jeder jeden kennt und sie ihm dort eins über die Rübe geben. Ich vermute, man würde ihn an seiner Angst erkennen.

Die während der Belagerung aufgebrauchten Ersparnisse und das von emigrierten Verwandten geschickte Geld haben die DeMark zur Landeswährung gemacht.

Einige Jungs ziehen Schlitten und Skier eine steile Straße hinauf. Als sie unsere Sprache als fremd identifizieren, fragen sie reflexartig nach Zigaretten. Unser 'Nein' beantworten sie mit der Feststellung, es sei besser, nicht zu rauchen. Dann rasen sie die Straße hinab, in offensichtlicher Unkenntnis darüber, wie die Bretter zum Bremsen veranlaßt werden können.

Eine neblige Nacht, ich streife durch den vorderen, der Frontlinie zugewandten zerschossenen Bereich des Hotels. Ein Teil der fünfzehnhundert irgendwie französischen Betten ist aus den vorderen Zimmern in wenige andere gestapelt. Ich schaue aus einem der Fenster der Scharfschützen mit flatternder UNHCR-Folie in die Krater in den gegenüberliegenden Gebäuden hinein. Die strategische Sicht auf die Straßenverhältnisse drängt sich auf: welche Gegner hatte man von hier aus im Visier? Welche Straßen hinterm Fluß konnte man von hier aus einsehen?. Dann gehe ich an Stimmen hinter löchrigen Türen vorbei hinunter, passiere die verwaiste Bar, und im ersten Raum quatschen die zu Wachmännern gewordenen Soldaten die früh einsetzende Nacht zu. Einer leert den Aschenbecher vor mir, er trägt einen Anorak, so lila wie die Lilasessel, auf denen wir sitzen.

Am Morgen durchqueren wir den Raum in Richtung Spielkasino. Durch ein Bullauge in einer Tür ('please unload your weapon') sieht man verstaubte zusammengestellte Roulettetische. Das ist der Weg zum Pressezentrum ('Are you missing a story?'); die Pressekonferenz ist eine mehr oder minder inneramerikanisch-englische Einrichtung, in der sich die verschworene Gemeinschaft der Kriegsberichterstatter mit den IFORs trifft. An diesem Morgen wird im wesentlichen die Frage variiert, wie die IFOR, die aus Den Haag Fotos von 30 Kriegsverbrechern bekommen hat, diese festsetzen kann. Die stereotype Antwort verweist auf die Rules of Engagement, die besagen, daß das Sache der lokalen Polizei sei. IFOR führe im Sinne des free movement keine Kontrollen Verdächtiger durch. Frager und Presseoffizier reden sich gegenseitig mit Mark, Jeff und Bill etc an.

Überall in der Stadt wird gewühlt, alle schippen in den Freiräumen des Chaos herum. Lichterketten illuminieren die zahlreichen Minarette. Das Angebot des staatlichen Kaufhauses ist analog zu seiner Zerstörung auf sein Untergeschoß reduziert. Irgendwoher wurde ein Teppichboden besorgt, Monoblockstühle an die marmornen Tische gestellt, und der Kaffee kostet nur ein Fünftel.

In einem Café mit Lebensmittelladen unten in einem Block an der Snajpersallee Dusko ein schweigsamer Serbe und Asim. Beide sind heute aus der muslimischen Armee entlassen worden. Asim bemüht sich um einen Fahrerjob bei der IFOR. Anhand des Stadtplans beschreibt er die Variationen der Frontlinie, manchmal erfaßten die Gebiete der verschiedenen Kriegsparteien nur ein paar Blocks. Mit Pistole und ohne UnIform hat er auf Anweisung begonnen, von den Erschossenen die Waffen zu nehmen. Der Bundesarmee hatten sie Strom, Gas und Wasser abgestellt, Telefonleitungen gekappt und Lebensmittellieferungen eingestellt. Dann hatte man die, die weg wollten, unbewaffnet über den Berg gehen lassen. (Woanders hörte ich, die Soldaten der Nationalarmee hätten alle Waffen mitgenommen.)

Die Transparenz der offenen Fronten. Überall kann man hineinschauen. Das Aufbrechen der Oberfläche. Die Stahlbetonskelette sind mit synthetischen Teppichböden und Aluverkleidungen beklebt. Schaumgummi niemals real gewesener Sitzecken. Manchmal stehen Heizungen allein und bezeichnen die Flächen, in denen die Verglasungen waren. Ich steige über eine flache Stufe, die das ehemalige Innen vom Außen trennt. Der Stahlbeton hinterläßt zumeist konstruktive Gerippe, während konventionelle Häuser als Schatten ihrer Außenmauern stehen. Meine Sicht hat noch die Qualität der atmenden Kamera auf zwei Beinen.

Umgezogen in ein ziemlich teures Privatzimmer im Zentrum der Stadt. Nach Tagen kalten oder nicht vorhandenen Wassers den eigenen Gestank mal wieder in den Abfluß laufen lassen. Die UNHCR-Folie legt die Räume in weiches schattenloses Licht. Die Straße findet im Zimmer statt, jede Stimme, jeder Motor ist auch drinnen.

UNHCR-Folie: Der Glaser hat das Flachglastransportgestänge von seinem gelben Bundespost-VW-Bus abgeschraubt und an den Zaun gelehnt.

Ich irre in einer Stadt herum, die sich an mir vorbei bewegt. Menschen, die gut geschminkt und in Nylonstrümpfen irgendwohin gehen und Autofahrer mit Vorrechten. An jeder Ecke die IFOR-Maschine.

Das Radnik Kino (Arbeiter Kino) hat als einziges während des Krieges jeden Tag gespielt. Das Programm kam aus dem Bestand der fünf Videotheken, die K. vor der Belagerung betrieb. Manchmal zeigte es auch Teile des Programms der geschlossenen Kinoteka, die noch 35mm Kopien hatte. Aktuelle ausländische Produktionen waren nicht zu sehen. Der Eintritt kostete konstant eine Mark, nur wenn der Generator eingesetzt wurde, waren es zwei (als ein Kilo Kaffee 120 und Zucker 80 kostete). Automotoren als Generatoren zu benutzen, machte nicht nur wegen des ausgefallenen Stroms Sinn, sondern auch angesichts der Legionen zerschossener Autos. Treibstoff für so betriebene Anlagen kam von der UNO.

Das Radnik ist ein Bienenhaus mit 20 Mitarbeitern, über sein amerikanisches Komödienprogramm kann man sich streiten. Sitzt man eine Zeit lang in dem blau beleuchteten Caféfoyer zwischen dem Monitor, der den Film im Saal zeigt, den leeren Bilderrahmen und einer überdimensionalen Spiegelkugel, die von einem kleinen Video-Beam angestrahlt ist, kommen dauernd Leute vorbei, mit denen irgendwelche Projekte besprochen werden. K. zeigt uns eine verwirrendes Kombination von Videos: Von Miss BiH und Werbung über "Mezaldo", einen stadtbekannten, beliebten, feuerschluckenden zahnlosen Komiker , zu 'Bez Komentara', ein humorvoll-poetisches Episodendoku von Dino Kasala, 1993 von RAT-ART (rat, bosnisch: Krieg) produziert: Bahnhof, Leute steigen in einen Zug, zwei Zugführer sind der Kamera dankbar, da sie ihren Job mit Humor belegt, und beginnen zu singen. Erst dann begreifen wir: Sie sitzen in einem Triebwagen der 3. Art, einem weißen Unimog, der am Ende der verbliebenen 3-km-Strecke Bosnia-Expreß seine Eisenräder einzieht und sich mit seinen überdimensionierten Traktorreifen zum Wenden über die Gleise quält, sich vor die Rückseite der beiden Waggons hängt und den Bosnia-Express aufs neue beginnt: Von Hbf. nach Alpasin, dem ersten Vorortbahnhof. Ein merkwürdiges weißes Lasttier mit Ballast schneckelt oder raupt durch den Schnee.


Interviews mit Leuten, die unterhalb der Wohnblocks Gartenbau betreiben und ihre Parzellen mit allen erdenklichen Materialien - hauptsächlich auseinandergezogenen Federn aus Innereien von Matratzen - umzäunen. Wörterbuchblätternd hat das zu unserer Erfindung des Begriffs Matratzengarten geführt.
K. s mageres Englisch und seine Fähigkeit, einiges über andere Kanäle zu verstehen, ging nicht soweit, als daß mir das Gestrüpp der Beziehungen und Projekte dort hätte klar werden können. Schnell löst sich eine ernsthafte Besprechung in seinem ausbrechenden Lächeln.

Er führt uns in ein Restaurant im Tiefparterre eines Wohnblocks. Dazu hat er einen befreundeten Taxifahrer bestellt, einen ausladenden Menschen mit kleinen mongolischen Augen. Wir fahren weit hinaus, biegen am gelben, zum roten Kreuz mutierten Jugokomerc ab und landen zwischen geparkten Autos, die in den letzten vier Jahren in einen sauber verpackten Autofriedhof verwandelt worden sind; die Kohlköpfe dazwischen sind diesen Winter kaum mehr in den Topf gekommen. Öffnet man die Tür in einer beige gestrichenen Ecke am Fuße eines im Karree gepflanzten Wohnblocks, schlägt einem die Wärme, der Lärm, der Rauch und das Klavier aus Reimonts "Gelobtem Land" entgegen. Die Tür ist ein Schalter am Grunde der Betonwüste: In den stromlosen Kriegsjahren wurde hier eine Videothek zum Restaurant, in dem Leute auf den irgendwo besorgten Massivholz-Picknik-Ensembles sitzen und trinken, essen, reden. Der Klavierspieler verbindet seine Lust an der Auflösung mit dem Brotverdienen. Eine vielflammige Gasdüse brennt offen auf einem Backblech am Boden, wärmt und legt den dicht gefüllten Raum in bläuliches Flackern. Viele singen mit und beobachten uns Neuankömmlinge, deren Mehrheit fremde Fische sind. Dann gibts kleinen harten Schinken und Oliven, Fisch mit selbstgeschnittenen Fritten; die Ikea-Aschenbecher hat ein Drechsler mit Holzbettungen veredelt. Wir beginnen etwas steif auf die immer besoffener werdende Musik zu tanzen. Der Taxifahrer hat inzwischen seine Frau abgeholt, eine richtige Ostschönheit, sie beeindruckt durch ihre Standfestigkeit, weder zu saufen noch zu rauchen, ohne dabei hart zu werden. Sie sitzen bei uns, und er trinkt, so daß ihm die Texte seiner Leib- und Magenlieder durcheinandergeraten und die Differenz zwischen hohen und niedrigen Tönen sich zusehends verringert. K. lacht verschämt, tanzt auf der Stelle. Sein Lachen muß sich immer und um so lieber durch die Nüchternheit brechen. Das tut es oft, und er weiß, wie die Leute um ihn herum davon leben, ohne daß er es zur Technik verkommen ließe. L. bekommt Muskelkater vom Lachen, und ich überzeuge die Frau des Taxifahrers von der Selbstverständlichkeit, daß M., ohne besoffen zu sein, in seiner Ecke im Begriff ist einzuschlafen; er liebt es, sich im größten Getöse menschlicher Stimmen vom Tage zu verabschieden.

Irgendwann später quetschen wir uns alle in den ausgeleierten Wagen, und L., die die größten Zweifel an der Fahrtüchtigkeit des Fahrers gehegt hatte, grölt am lautesten, als er singend beginnt durch die fortgeschrittene Sperrstunde über die nächtliche Allee zu brausen. Als er auch noch anfängt in die Hände zu klatschen und den Löchern, die schlagartig unsere Richtung ändern könnten, keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen, wird seine Frau neben ihm streng. Wir verpassen unsere Straße und landen nach gegengefahrener Einbahnstraße in einer idiotisch ferienartig installierten Sackgasse der Altstadt, deren Alter in Wahrheit nur aus der kostspieligen Nostalgie der Olympiavorbereitungen besteht. Das schrumplige, schwammige, geflickte Holzgekrümel hat man damals gegen osmanisch-sarajewischen Stil ersetzt. Am nächsten Tag überzeugt K.s Unversehrtheit davon, daß sie den Weg zurück in die Randmoränen der Snajpersallee einigermaßen hinter sich gebracht haben.


Obala Club. Im Keller der Filmakademie befindet sich ein kleiner angepunkter Club. Dort verkehrt der harte Kern der Kunstakademie. Wahrscheinlich der einzige Szene-Ort der Stadt. Am ersten Bajram-Abend (Bajram ist ein dreitägiges Fest nach Beendigung des Ramasan) gabs eine überfüllte Party. Die Obala Galerie nebenan ist vielleicht der einzige Ort, an dem diskutable neue Kunst ausgestellt wird.

Warhead-Presseleiche / Boltanski habe seine Portraitfahnen vom Dach der Obala Galerie runter gehängt, er sei ein nice short guy. Einige der ausländischen Journalisten kennen nicht einmal Jim Jarmusch. Der Sänger von U2 saß in diesem Club rum (wollte sich aber nicht auf eine gemeinsame Abneigung gegen die 'brits' einlassen). Zu Beginn des Krieges war der stämmige Akademiestudent D., nachdem er Schüsse gehört hatte, etwas betrunken vors Haus gegangen und sah dort ein Paar liegen. Die Frau hatte keinen Puls mehr, aber der Mann wand sich noch, er öffnete seinen Anorak und die Gedärme quollen heraus. Danach sei alles anders gewesen, nie wieder hätte er den Schock erlebt, auch nicht als eine Granate im Rücken seiner Freunde hochgegangen war. Sie hätten die Leichenteile auf Wolldecken zusammengesammelt, und er wäre kalt gewesen. Er kann sich nicht erinnern, ob der erste, den er erschossen hat, ein Soldat war, aber in der Gegend seien eigentlich keine Zivilisten gewesen. Zum ersten mal fühle ich, wie Krieg zur Sucht wird. Er kennt die Abkürzung für seine Krankheit, PTS irgendwas. Er hat keine Lust, die Minen, die er angeblich damals gelegt hat, abbauen zu helfen. Zuletzt versteigt er sich dazu, der Dayton-Vertrag sei dadurch ermöglicht, daß den Verhandlungsführern die Leiche eines Alien vorgeführt worden sei. Ich habe den versöhnlichen Eindruck, daß ihn alle hier dafür ausgelacht haben. Sie beobachten uns. Der Krieg hat entschieden, welcher Teil seines Charakters die Überhand gewinnt. Er hat das Sich-in-den-sogenannten-Zentren-der-Welt-Durchschlagen ersetzt. Heute sei der Tag, an dem Gott entscheide, wer im nächsten Jahr stirbt.

Die meistgefilmte Stadt der Welt. Die Stadt ist zum Denkmal geworden.
Am ersten Tag des neuen Linienbusses nach Ilidza ist auf der 15. Tour hineingeschossen worden. Zwei Verletzte, einer schwer. Heute gibt es den Bus nicht mehr. Illidza ist neben Grbavica und Vogosca eines der Hauptteile serbischer Gebiete, die gemäß dem Dayton-Vertrag bald an die Föderation übergeben werden. Ein kurzer Überblick: Dayton (hier heißt es Dejton) besagt, daß Bosnien-Herzegowina ein eigener Staat wird, der seinerseits aus der Republica Srbska (dem Serbischen Bundesland) und der Federacija (Föderation von Muslimen und Kroaten) besteht. Die Schritte dazu sind in D+ irgendwas festgelegt, D+60 (20.2.) war z.B. die Einführung der internationalen Polizei in einigen der zu übergebenden Gebiete. Formal scheint die Realisierung zu funktionieren, eine gemeinsame Bundesregierung erscheint bei all der Angst und dem Mißtrauen jedoch unrealistisch. Dabei ist die Strecke des Busses nach Ilidza zwischen der Wendeschleife, an der die Straßenbahn heute umdreht, und dem Ortseingang Ilidza die symbolische Meile. Das sind etwa 1,5 km zerschossene Einfamilienhäuser, ein hart umkämpftes Gebiet. Immer ging es um die Verbindung zum Flughafen und damit auch um den Korridor über den Berg Igman, der Sarajewo mit dem Rest des muslimischen Bosnien verband. An diesem neuralgischen Punkt wurde vereinzelt auf den neu eingesetzten Linienbus und Fernbusse geschossen.


Pressekonferenz , Freitag, 16.2., und eine spätere telex-Meldung nach der Ortsbesichtigung: Die IFOR hat in einem abgelegenen Tal bei Fojnica ein Waffenlager, ein 'terrorist training camp' ausgehoben. Neben Waffen, Aufzeichnungen in Bosnisch und Farsisch und Modellen nicht identifizierter Wohnhäuser wurden fernzündbare Sprengsätze in Kinderspielzeug und Schampooflaschen gefunden. Drei der 11 Anwesenden sind Iraner - offen-sichtlich die Instruktoren - und die acht Bosnier Schüler. Eine dort gefundene Liste weist alle Schüler als Geheimdienstmitarbeiter des bosnischen Innenministeriums aus. Die letzten Aufzeichnungen datieren vom 5.2.. Für Trainingszwecke seien die Unterlagen zur Ermordung einer Person in ihrer Privatwohnung eigentlich zu detailliert. Man könne zwar nichts gegen Schulen für Geheimdienstler einwenden, aber die Beteiligung von Ausländern, das Kinderspielzeug und einige der gefundenen Waffen verstoßen gegen die Genfer Konvention und den Dayton-Vertrag. Izetbegovic war der Überzeugung, die Anwesenden seien zum Aufräumen dort gewesen. Die IFOR könne die Leute nur bis zum Abschluß der Untersuchungen festsetzen und müsse sie dann an den bosnischen Staat übergeben.

Am Fluß, der ehemaligen Frontlinie, gehen wir zwischen Minenabsperrungen aus gespannten dünnen Schnüren entlang zur Brücke nach Grbavica.

Einige alte Menschen mit Tüten und Taschen überqueren langsamer als wir die kürzlich eröffnete Brücke. Die Srbska Policija hat sich in einer Tankstelle mit abgebauten Zapfsäulen hinter Sandsäcken etabliert. Diesmal läßt ein deutliches 'wir dürfen' die Forderung nach einem gestempelten Papier aus Pale verstummen. Das Gebiet liegt etwa 1 km von der Innenstadt entfernt, jenseits des Flusses ca. 50 Meter südlich der Snajpersallee. Diesen Vorposten haben die Tschetniks zwecks Teilung des Stadtgebietes nahe an die Hauptachse herangeschoben. Zu D+91 (19. März) wird es an die Stadtregierung übergeben.

Jenseits stehen ärmliche Leute, die hinüberschauen und warten. Unsichere Blicke auf uns seltene Besucher. Vielleicht schämen sie sich. In der Nähe der kyrillischen Bushaltestelle nach Belgrad stehen auch Leute herum, wenige reden miteinander. Überall liegen vor Jahren zu Barrikaden verbaute umgestürzte Autos, zerschossene Karosserien, von denen alles brauchbare abgebaut ist. Die 8-geschossigen Blocks sind deutschem Wiederaufbaustil ähnlich. Aus den meisten Fenstern wehen grüne Folien, Wolldecken oder zertrümmerte Rollläden; manche sind zugenagelt, kaum eines ist mit der gewohnten UNHCR-Folie geflickt. Ein kleiner Markt bietet nichts als wenige A&P Schokoladen und serbische Zigaretten gegen alte Dinar. Wir stapfen auf Glasscherben an verlassenen Läden vorbei.

Je weiter wir in die Siedlung vordringen, desto wilder sind Möbel und Scherben auf der Straße verteilt. Seit zwei oder drei Jahren haben sich Pflanzen daran gemacht, durch den Asphalt zu stoßen. Offenbar gab es Heizmaterial, denn die meisten Gegenstände auf der Straße sind brennbar gewesen, bevor sie sich von Regen und getautem Schnee vollgesogen und aufgebläht haben. Auf manchen Balkonen hängt frische Wäsche, auf manchen ist sie grau geworden.

Berechnungen von Flugbahnen: Die Wege über die Einschußschneisen sind hier nicht durch Container geschützt, sondern meist durch lange von Block zu Block gespannte Wäscheleinen, an denen alles hängt, was groß, flach, nicht zu schwer und undurchsichtig ist. Von diesen flatternden Sichtblenden aus rekonstruieren wir, woher die Gefahr drohte, und setzen unsere Berechnungen von Flugbahnen und wichtigen Verkehrsverbindungen fort. Im Kopf entsteht eine strategische Karte mit Pfeilen, Gebäudehöhen sowie Bedeutungen von Straßen und Häusern. Die oberen Wohnungen der Blocks am Fluß sind mit Patronenhülsen, Erbsenbüchsen und zerbrochenen Sitzgelegenheiten zugemüllt. Von dort aus sieht man über die Snajpersallee steil in die Straße zum Bahnhof hinein. Unten ein flacher, beleuchtbarer Tunnel mit Telefonleitung, um parallel zum Fluß von einem Block zum nächsten zu gelangen. Wir analysieren die Notwendigkeit bestimmter Wege. Von A nach B. Von C nach B... Die Rekonstruktion des Vergangenen in unseren Köpfen.

Am Sportplatz finden wir Familienfotos. Ein fülliger Mann mit seinen Kindern am Strand, eine Stadt in den Felsen.

Dort wo die ebenso verlassenen Einfamilienhäuser stehen, finden wir ein lila beleuchtetes unbesuchtes Café mit Spielautomat, in dem Limonade ohne Kohlensäure als Saft verkauft wird. Als M. seine Kamera, in Richtung Straße blickend, auf den Tisch stellt, zuckt die hagere Frau, mit der wir eine tastende Wörterbuchunterhaltung führen, zusammen. Nachdem er sie weggepackt hat, kann sie wieder mit uns sprechen. Der magere Körper der Verliererseite. Ich baue eine Frage nach der Beurteilung der Übergabe von Grbavice an die Stadt zusammen, und sie zeigt bestimmt auf 'ne dobre' (nicht gut). Sie ist Ende 1992 von der belagerten Seite in die Wohnung ihrer Schwester, die nach Belgrad gegangen ist, auf die Seite der Belagerer umgezogen. Sie wird bald wieder gehen. Die Scheibe Schinken, die sie uns schließlich auf einem kleinen Tellerchen anbietet, dreht mir die Gedärme um. Den merkwürdigen Geschmack interpretiert L. von "verdorben" nach "Esel" um, was das Gegrummel leiser macht.
Am Sportplatz fragen wir zwei Jungs nach Tanzen, na klar, richtig gut, sie möchten dann doch nicht sagen wo's genau ist, vielleicht sind sie nicht mehr so sicher, ob's wirklich gut ist. Sie sagen, auf der anderen Seite brausen nur Mercedesse. Das kommende Jahr wollen die netten 16-jährigen nutzen, um für die Rückeroberung zu trainieren. Nach der massiven Invasion der Außenwelt im anderen Teil der Stadt, hier die Abwesenheit derselben. Die Frau im Café sagt tapfer, es gäbe viel Kontakt zum Ausland. Ich habe niemanden vorher so zart und so verletzt gesehen.Tausend Dinge können für sie zur politischen Situation dazugekommen sein. Irgendwas muß es noch sein; als wir nach ihrem Chef fragen, bedeutet sie uns, sofort damit aufzuhören.

Eine Frau sieht uns an. Sie sitzt am Rande eines Berges von Möbeln, Kleider in Plastiksäcke gestopft, auf dem Weg woanders hin. Jeder hat sich irgendwo eine alte, offene 6-Tonner-Pritsche organisiert, um seine Wohnung aufzuladen, erstmal hinter den Grat der Berge. Es scheint, als gingen selbst die, die ein Haus besitzen. Wie ist das für die Kinder, in deren Klasse täglich einer weniger ist?

Eine Gruppe älterer Männer macht einen Spaziergang zur Grenze am Fußballstadion. Zum Untergehen der Sonne haben die Wolken Platz gemacht und lassen das erste direkte Licht in die schwer durchschaubare Stadt. Der Fernsehmensch weiß nie, ob er jemals so etwas gesehen hat.

Ich habe fast den Eindruck, nicht mehr zu schauen. Ich bewege mich durch einen Raum von einer Perspektive zur nächsten. Steige in eine unbeleuchtete und - da es bereits dunkel ist - nicht mehr ganz vollgepackte Straßenbahn. Nach zwei Stationen ist die Finsternis der Bahn bereits selbstverständlich, als hätte es Beleuchtung nie gegeben.
Wanderung von einer Perspektive zur nächsten. Wir haben begonnen, einige Dinge zusammenzubringen. Langsam beginnt sich die Inhomogenität unterschiedlicher Lebensauffassungen zu einem allseits offenen Organismus zusammenzuschließen. Der Krieg hat die Kategorien zerschlagen und sich selbst als mannigfaltige Struktur darübergelegt. Ich sehe die involvierten Menschen, die versuchen, ihren eigenen oder nicht eigenen Blick auf das Geschehen zu finden. Die diskutierende Welt hat wieder eigene Strukturen auf die Realitäten gesetzt: die IFOR, die Presse, die Hilfsorganisationen, die Kulturreisenden.

Heute morgen suchten wir in den überfüllten Fluren des Rathauses nach dem kleinen ölgestrichenen sozialistischen Büro des Borislav Spasojevic. In seiner Person, der des schweren, unbeweglichen Architekten, begegnet mir die alte undurchdringliche höfliche Ostschwere hier zum ersten Mal. Er ist Vizepräsident der Stadtversammlung Mitte (oder so ähnlich) und Präsident der Vereinigung Prosvieta (Sonnenaufgang), 1885 gegründet, reanimiert 1990 und 1993 für die ca. 40.000 Serben, die während der Belagerung geblieben sind. Prosvieta hat ebensowenig Kontakt in die Republica Srbska wie alle anderen hier. Deshalb hatten wir ihn aber besucht.

Wo man auch ist, entweder zieht jemand einen Karton mit einem Videorecorder aus dem Regal oder macht eine abfällige Handbewegung, oder er weist aufs geflickte Dach, irgendwie begegnet man Soros immer.
Die Soros Foundation unterstützt hier seit 1993 die unterschiedlichsten kulturellen, edukativen und humanitären Projekte (hier mit etwa 5 Mill. $ Jahresbudget). Eine Dachabdeckung für das Nationalmuseum, eine Videoanlage für die Kinoteka, verschiedene Internet-Projekte, Arbeitsstipendien für Künstler, Projekte in Theater, Oper und Ballett, aber das Ballett mit vielen ausländischen Tänzern, sei kaum noch arbeitsfähig, da die Ausländer während der Belagerung größtenteils die Stadt verlassen haben. Projekte aus der Republica Srbska würde man auch fördern, bisher sei jedoch kein Antrag eingegangen. Seit 1993 lief von über acht Satellitenleitungen eine der wenigen Telefonverbindungen zur Außenwelt. Auch hier sind Computer und Bibliothek einfach auf den Teppichboden des ehemaligen Büros (des Svjetlost Verlages), gestellt, schiefe Stellwände schirmen die Besuchersitzecke unzureichend von den computerspielenden Kids ab. Gerät man hier an den Falschen, kann man im Sinne der Effektivität leicht glattgebügelt werden, aber Aida Cengic, die Kulturkoordinatorin, nimmt sich Zeit und ist klar. Als wir uns wieder einmal in dem Dschungel der Ethnien und ihrer Ausnahmen verirren, sagt sie dont´t try to understand. Wer ist 'us'? 'Us' sind auch die Serben, die hiergeblieben sind; außenrum und in den serbischen Vorstädten, die vor 1992 keineswegs nur von Serben bewohnt gewesen sind, seien die 'Tschetniks'. Es habe sarajewische Witze gegeben, aber keine konfessionell getrennten. Von 'Ethnien' kann man bei fast 50% 'gemischten' Ehen nicht sprechen.

L. korrigiert mich immer, wenn ich mich wundere, wie wohlständig die Leute aussehen. Sie haben ihre Kleider über den Krieg hinweg gepflegt, sind aufwendig geschminkt, und es gibt fast ebenso viele Friseure wie Cafés, und davon gibt es reichlich.

Eine Frau, die als Flüchtling in Wien lebt und jetzt hierhin gereist ist, sagt mir, sie hätte fast alle ihre Sachen noch von vor dem Krieg; dies Schönmachen sei damals der Unterschied zwischen Überleben und Leben gewesen, niemand hätte sein Elend zeigen wollen. Jetzt kommen viele zurück, ausländische Wortfetzen in Straßen und Restaurants drehen sich um business. Einige werden sich bald die besten Scheiben abschneiden. Ich stehe da und begreife nicht, wie noch vor zwei Monaten hier überhaupt nichts ging. Lebensmittel aus der Luftbrücke und aus den Matratzengärten in Parks und um die Blocks rum, kein Strom, kein Gas, frieren, bis man die Fensterrahmen der Nachbarwohnung verheizt und die Berge kahl schlägt, anstehen beim Wasser unter Lebensgefahr, etc., etc.

Oft gibt es zwar immer noch kein Wasser, aber es kommt aus der Leitung, und die gehorteten Kanister werden Zuhause randvoll gemacht, Strom gibts meist, Gas reihum, etwas mehr als die Hälfte des Tages. Die zugeklebten Fenster schaffen die rationierte Wärme geradewegs nach draußen; mit oder ohne Fenster, geheizt wird immer dann, wenn Gas da ist.


Je länger der Krieg, desto besser die Schuhe oder Je länger der Krieg, desto größer die Gerüchteküche. Da man sich im Angesicht der allgegenwärtigen selbstbewußten Hilfsmaschinerie nicht in der Nähe zu Somalia fühlen mag, hat sich eine überlebenstechnische Distanz zu dem Apparat aufgebaut, die in der wunderbaren Behauptung des Schriftstellers Sejfudin Tanovic mündet, die amerikanischen Lieferungen seien teilweise Reste aus dem Vietnam-Krieg gewesen. Eine Verpackung, die das belegen könnte, hat er nicht mehr. Eine UNHCR-Monatsration: 150g Zucker, 1 kg Mehl, 100 gr Bohnen, 200 gr Reis, 1 Stk. Fleisch. 1993 wurde auch das Saatgut verteilt, aus dem die Matratzengärten entstanden. Die Cutterin Christel Tanovic ist nach der ersten Defa-Koproduktion mit Jugoslawien 1964 ('ein schlechter Film') eingewandert und schneidet nun die SaGA-Produktion 'Perfect Circle'. Im ersten Kriegsjahr waren sie die einzigen in ihrem Block, die Gas hatten, also kam das ganze Haus bei ihr kochen. Dann organisierten die anderen sich Rohre und schweißten sich den Weg zu ihrer Wohnung, die damit zum Gasverteiler des Hauses wurde. (Ich hatte mich schon gefragt, warum an fast allen öffentlichen Geländern die Handläufe fehlen und nur noch die Vertikalen aus dem Boden ragen). Ein Gasbrenner im Sarajewosystem wird aus einem einfachen oder vier gelöcherten Rohren im Karree geschweißt und durch Gartenschläuche mit dem nächsten Gasrohr verbunden und vorne in den Ofen gesteckt. Heute werden an den außen an den Häusern entlang improvisierten Rohrleitungen holländische und amerikanische Gasmanometer installiert.

Während des Krieges ist sie, weil die Straßenbahn nicht fuhr, jeden Tag die 6 km zum Fernsehsender am unteren Ende der Snajpersallee zu Fuß gegangen und hat während der ganzen Zeit keinen Erschossenen gesehen. Mit ihren Monatslöhnen konnte sie damals einen Teller Suppe kaufen. Jetzt ist es ein Benetton Pullover. Die Wärme aus einem Paar in Streifen geschnittener Schuhe konnte einen Topf Bohnen garen oder ein Brot backen. Indem sie die Kriegsrezepte in den Ofen gesteckt hat, hat Christel Tanovic den Krieg für sich für beendet erklärt. Bedita Islamovic von der Bibliothek hat bei ihrer Einschätzung der Qualität von Schuhen Daumen und Zeigefinger geküßt: 'Italienische Schuhe brennen am besten'. Auf die Frage, wer eigentlich zu Benetton gehe, antwortet sie 'na, wir alle! Wir gehen alle gucken...'

Heute schleppe ich mich durchs Samstagvormittaggewimmel. Manche tragen halbtransparente Gewebefolientaschen, die unter Aussparung des UNHCR-Emblems genäht wurden. Auf die Frage, was sie schätzt, welcher Anteil der Alltagsgüter hier produziert wird, lacht Lidia, die Übersetzerin, und kommt nur auf Sarajevsko Pivo, das Bier, und Drina, die Zigaretten. Kiseljak, das Mineralwasser, wird nahe der Stadt abgefüllt, und in manchen Läden wird eine Flasche mit zwei Mark Pfand belegt. Außerdem gibt es den aus undefinierbaren Tierkörpern geschnittenen geschrumpften Schinken.

Nur noch aus Augen bestehen. Die Augenmaschine bewegt sich durch die Landschaft, und wieder Radnik: Die Augenmaschine sitzt vorm Monitor, und wenn das Video leise wird, dringt action vom Kinosaal in den Projektionsraum, wo sie SaGA-Videos in sich hineinschaufeln läßt . Sie saß vor dem Monitor und schaute den Obdachlosen beim Warten und beim Schnapsbrennen zu. Dann tapst die Augenmaschine durch den leeren Saal, in dem, horror-vacui, noch clips laufen, die zum Ende der Vorführungen automatisch einsetzen - Waterfalls, M.Jackson. Und sitzt wieder im Foyer, Videos über die Spiegel und Gipsy Kings. Sie arbeitet wie ein zum Aggregat umgebauter Golfmotor. Die Augenmaschine hat Hunger und geht wieder in den Pizza-Club-Keller mit den abgegipsten Menschen auf dem Weg zum Klo.

K.s widersprüchliches Verhältnis zur Realität: Auf der einen Seite scheint sie dazu da, sie zu fliehen, sie im Glanz der Clips zu ertränken, auf der anderen Seite ist K. ihr in Gestalt des Organismus Kino und den Menschen, die sich dort bewegen verfallen. Manchmal, z.B. durch 'Bez Komentara' scheint er es zu schaffen, die Schönheit des realen Glanzlosen zu spüren. Überall trachten die Menschen, dem zu entrinnen, was sie den Menschen dem Tier ähnlich macht. Im Krieg wird diese Ähnlichkeit noch unvermeidlicher. 19 Etagen hoch schleppte man das Wasser, mit dem man den Jammer von der Haut in den Abfluß spülte in die kalte, folienverklebte Wohnung. Der Magen gedunsen von Kohl und Milchpulver; gefrorene Windeln.

Der Krieg erwischte sie in einem Augenblick, da sie voll damit beschäftigt waren, das sozialistische Lagerleben durch erfolgreiches Wirtschaften zu ersetzen. Mit der futuristischen Olympiade begannen die eleganten Mäntel. - Der Krieg erwischte sie nicht in dem Moment, da sie ihre Wohnzimmermöbel auf die Straße schmissen, um inmitten gestapelter Bananenkisten zwischen weißen Wänden auf Matratzen zu spüren, was der Körper zu sagen hat. Ihre Frauen waren langbeinig und geschminkt, junge ausbildung-abgebrochene Mütter von Junge und Mädchen. Von da ausgehend, entwickeln die Frauen ihre Kraft.

Ich sitze wieder im Hundezimmer und höre ab und an Besoffene, die die Sperrstunde ignorieren, löse das Fett des Pizza-Kellers in Bier und Bullrichsalz. Regen. Wo man hinschaut, geflochtene Zeitungsständer und melierte Tischlampenfüße; ein Schuß durch das Furnier der Schrankwand durchbohrt den peinlich verborgenen Preßspan; die von kleinen Scharnieren gerade eben vertikal gehaltene Glastür existiert nicht mehr. Das ist das zeitweise geräumte Wohnzimmer der arbeitslosen zimmervermietenden Psychologin. Sie kommt mit ihrer Rolle nicht klar. Sie kann kaum grüßen. Den ganzen Tag sitzt sie in der Küche und leidet und raucht. Ihr Programm ist empfindlich gestört. Ich schaffe es gerade noch, meinem Kopf zu sagen, daß die Störung des Programms für Leute, die es als festgefügten Lebensentwurf haben, schlimmer ist als für freischwebende Moleküle.

Der trockene Sturm der Nacht reißt Gewebefolien von den Dächern und treibt Zinkabdeckungen polternd durch die Straßen, reißt an lose hängenden Alublenden im verwaisten Hotel Europa auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

An der Wendeschleife, der gegenwärtigen Endstation der Straßenbahn, wo die ohne einen Tag Unterbrechung arbeitende Tageszeitung Oslobodenje ('Befreiung') in Schutt liegt und ein ehemals überbuntes, hyperfröhliches Altersheim mit japanischen Gartenbrückchen steht, beginnt die Wanderung nach Ilidza. Man reiht sich ein in einen lückenhaften Treck in der Sonntagmorgensonne, um durch verlassene Einfamilienhäuser des Niemandslands an einem kleinen improvisierten Zentrum mit wartenden Taxifahrern, kyrillischen Cafés und Cola - unkaputtbar - Dieseltankstellen anzukommen. Bei einer handle ich mir die freundlichste aller möglichen Fotoablehnungen ein. Im Café sitzen Männer an einem Tisch, die entweder in wenigen Worten französisch erklären zu bleiben, weil sie hier und in der Stadt ein Haus besitzen, oder deutsch ankündigen, daß sie alles anzünden werden, wenn sie den Ort verlassen. In der tauenden Sonntagslandschaft verzieht sich der Nebel vom Igman.

Kinder haben den Rohbau eines Mehrfamilienhauses in Besitz genommen. Der dänische Chef der neuinstallierten internationalen Polizei berichtet, daß wohl entgegen allen Empfehlungen und Zusicherungen des Dayton-Plans 80% der Leute gehen werden. Es werde ein Machtvakuum geben, da das Personal der Srbska Policija jeden Tag schrumpft und kaum einer das Angebot, als professional policeman in den Dienst der Föderation übernommen zu werden, annehmen werde.

Auf dem Weg zum Flughafen reiht sich ein bepacktes Auto in Richtung Pale an das nächste. Fiats mit Anhänger transportieren weniger Wohnungseinrichtungen als brauchbare Module, Badewannen, Zimmertüren, alles bis zum altmetallfahrenden Sattelschlepper. Ein Treck leerer Fahrzeuge bildet die Gegenrichtung. Alles was fährt ist für diese letzten Wochen vor D+91 mobilisiert. (Später lese ich, die Übergabe sei schon am 12. 3.). Die ehemals ruhige Vorstadtstraße, im Vorfrühling zum Hauptverkehrsweg geworden, löst sich schnell in Tauwasser und tiefem Matsch auf.

Unsere Füße stellen sich auf den Rhythmus des Weges ein, gehen, gehen. Zwischen allem Frauen mit Kindern. Die knapp 20 Kilometer Luftlinie nach Pale sind zu einem Eineinhalbstundenfahrweg geworden. Grüßt man, freuen sich fast alle verwundert. Zwei Kids mit Fahrrad, die wir später auf der Ladung des einzigen Pferdefuhrwerks sitzen sehen, lächeln mit Sieg heil und wissen nicht, was sie tun. Nach dem Fotografieren bedanken sie sich. Stehengebliebene Einfamilienhäuser, die nie fertig geworden sind. Decken und Tücher, die mal als Sichtschutz aufgehängt wurden, zerfallen in der Farbe des Matschs. Zäune aus auseinandergeschraubten Heizkörperelementen verrosten. Auf spätere Nachfrage wurde mir bestätigt, daß das serbische Fernsehen auf die Bewohner der zu übergebenden Gebiete jedweden Druck wegzugehen ausübt.

Die Abfertigungshalle des Flughafens aus den frühen 80er Jahren ist mit Containern der französischen Division vollgestellt. Einigen fehlen Längsseiten, so daß größere Einheiten die 'Stuben' bilden. Schwarze und weiße Soldaten in T-shirts und Badeschlappen. Zwischen zwei grobgezimmerten Büroeingängen eine von Rekruten gemalte Krippe, Schaf und Esel sind reliefartig aus Spanplatten ausgesägt und aufgenagelt, halb zugestellt mit 20-l-Armykanistern.

Des öfteren hatten wir von dem Tunnel gehört, der den muslimischen Korridor bei Ilidza mit seiner Weiterführung jenseits des UN-kontrollierten Flughafens über den Igman ins 'freie' Bosnien verband. In seinem Bureau danach befragt, merkt der Colonel Ract-Madoux an, daß die Brücke, die jeder passieren muß, der vom Tunnelausgang in Richtung Igman gehen wollte, nicht zerstört worden ist, obwohl sie relativ gut einsehbar ist. Er schließt daraus, daß es für die Tschetniks irgendeinen Grund gab, die Stadt nicht vollständig abzuschließen. Dann lädt der Lieutnant Schrepler uns zur Abenteuertourifahrt in ein wanzenartiges amphibisches UFO.

Beim freien Fall in die Schlaglöcher haut man sich ohne Stahlhelm dort die Schädeldecke ein. Die Abflughalle vermeidet er tunlichst und bringt uns zum 'crossing'. Heute ist der Tunnel durch einen IFOR-geleiteten Konvoi um den Flughafen herum ersetzt. Kurz vor der Einfahrt in föderative Stadtbezirke muß er die beschriebene Straße des serbischen Exodus kreuzen. Das ist das 'crossing'. Kommt ein Konvoi an, halten die Soldaten den Treck an, bis die beleuchtete post-war-Prozession durch ist. Eine Zeremonie. Der Konvoi hat etwas Sakrales, das den Zustand als Waffenstillstand und wenig mehr visualisiert.

In Butir, dem Dorf am jenseitigen Ende, durften wir den Ausgang des Tunnels nur kurz sehen. Es gibt zwei: der erste, den man gebückt passieren muß, wurde 1993 in sieben Monaten im wesentlichen mit Schüppen gegraben, der zweite kurz vor Kriegsende mit deutschen Maschinen. (Witz, 1993: Zwei Leute treffen sich am Tunnel, einer will in die Stadt hinein und der andere aus der Stadt raus. Mit großen Augen sehen sie sich an und fragen unisono: "Wo willst Du verrückter Mensch denn hin?") Butir ist zur Staffage, zum Aufstellort der Prozession geworden.

Meine alte etwas psychologisierende Sicht auf den Krieg als Konflikt (Wie entsteht ein Streit? etc.) hat sich zu einem lebendigen, allseits offenen Organismus entwickelt. Vielleicht kuriert dies ein für alle Male von der sich immer wieder einschleichenden stillschweigenden Voraussetzung einer homogenen Mentalität. Die Erfahrungen der Leute kann ich niemals kennen.


Die Weltmaschine. Der Krieg hat seine Struktur in das Leben dieser Stadt implementiert und es völlig umgedreht, darauf kam die UNPROFOR- und heute die IFOR-Maschine samt weltweiten Hilfsorganisationen, ein mannigfaltiges Gestrüpp von miteinander verbundenen und freischwebenden Strukturen, die sich auf das System des Krieges gelegt haben, an jeder Straßenecke ein weißes, gepanzertes Fahrzeug und in jeder Straße ein Johanniter-Transporter oder UNICEF-Jeep.

Die Frage, ob IFOR einer (wörterbuchblättern..: hòbotnica) Krake ähnelt, ist in der Bibliothek mit Lachen beantwortet worden. Es ist ein ambivalentes Geschöpf, das abgesehen von familiären Kontakten noch einen Großteil der Außenwelt ausmacht. Es berührt das Selbstverständnis merkwürdig: In der Nähe von Somalia zu stehen, wird nicht gerade als erstrebenswert angesehen.

Daß die Maschine nach ihren eigenen Regeln arbeitet, ist unausweichlich. Es ist eine Behelfsbrücke die u.U. viel ausgefeilter ist als die, die sie ersetzt. Wie immer die alte Brücke war, morsch oder modern, sie hatte ihre Geschichte vor Ort. Die Frage, ob die Soldaten zivil in die Stadt gehen, war dem Colonel Ract-Madoux befremdlich. Alle seien ständig eingesetzt, aber er hoffe für die Soldaten eine Bustour in die Stadt organisieren zu können. Viele seien überhaupt noch nicht dort gewesen.

Die private Einschätzung des deutschen Hauptmanns F. läßt auf Kontakt bestenfalls mit öffentlichen Personen schließen: die Leute hier säßen noch in einer postsozialistischen Konsumhaltung fest und erwarteten viel. Die 'Jugomafia' sei überall. Er ist ein klarer, energischer Mann und spricht kritisch über die Unentschiedenheit, die auch aus der Bundeswehr selbst komme. Er wisse nicht, wozu man eine Beamtenarmee brauche. Kaum ein langjähriger Offizier möge sich vorstellen, im Matsch auf dem Igman herumzulaufen. Es gebe auch interessante andere Arbeit. Selbstverständlich waren das private statements.

Das Landesmuseum von 1886 war das k.u.k. Museum an sich. In Vitrinen aus der Gründerzeit waren in drei entsprechenden Abteilungen ausgestopfte Tiere, spätrömische Grabstelen und ein vorgeschichtlicher Einbaum zu sehen. Im quadratischen Innenhof ein kleiner botanischer Garten, in den auch ein paar Kohlköpfe gepflanzt sind. Zwischen den teilweise mit Sandsäcken abgedeckten Sarkophagen hat der Direktor Imamovic zeitweise sein Büro aufgeschlagen, da es draußen wärmer als drinnen gewesen ist. Die Bären und aufgesteckten Bienen sinken aus Mangel an Konservierungsstoffen ungeheizt hinter Plastikfolien in sich zusammen. Ein Aufruf an europäische Museen brachte nur eine Unterstützung vom Landesmuseum Zürich. Zu Beginn der Belagerung waren von 120 Mitarbeitern zunächst die meisten der serbischen verschwunden, andere flohen später. Die verbliebenen 17 bewerkstelligten die Auslagerung der Raritäten, der jüdischen Haggadah, eines illuminierten mittelalterlichen Buches, seltener Insekten, Schmuck und unendlich viel Kleinkram in unterschiedlich sichere, aber untemperierte Keller. Die Rückseite des Gebäudes grenzt an die Frontlinie. Nachdem der Direktor an seinem Arbeitsplatz umgekommen war, übernahm Prof. Enver Imamovicic die Leitung.

Der Ornithologe Dr. Svietoslav Obratil führt mich an zusammengeschobenen Vitrinen vorbei, unter abgedeckten Adlern und schräggehängten UNHCR-Folien hindurch, die als Rutschen das durchregnende Wasser aus den Fenstern leiten. Die heimischen Wespen, Bienen und Hummeln haben den aufregendsten Teil ihres Stecknadeldaseins hinter sich, sie mußten bleiben, während die Schmetterlinge aus Sri Lanka und Raupen aus Galapagos im Keller an ihren Nadeln festfroren. Ich werde zum Museums-Bajram-Fest für die 40 Mitarbeiter eingeladen. Dort spielt ein für heute mitgebrachter Ghettoblaster alte und neue Volkslieder, sie tanzen und ich muß auch, am hellichten Tag. Vier Stücke des buttrigsten und süßesten Kuchens liegen vor mir. Einige lachen und schreien sogar, aber andere schaffen es nicht über die Schwelle. Die ausladende Vizedirektorin Mirsada (heißt peace now) Muskic hält eine Ansprache, der langjährigste Mitarbeiter, Hausmeister Mustafa, freut sich andächtig über die Anwesenheit der Fremden. Jasna, die Textilkonservatorin, lacht und weint, als sie mir im Nebenzimmer von ihrer Rückkehr aus Norwegen erzählt. Bajram, ein Fest mit Familienbesuchen, Baklava und Ausgehen.

Als ich mit den Franzosen, die ich im Museum getroffen habe, zum Abfilmen der einzig erreichbaren Faksimileausgabe der Haggadah zu Benevolencija mittrödele, ist in dem zugewachsenen Büro des Jacob Finci gerade Serrota mit seinem Katalog angekommen. Er sitzt am Telefon und kämpft sich amerikanisch mit der erstaunlichsten Selbstverständlichkeit zum deutschen Botschafter Preissinger durch und versucht ihn zum Engagement seiner Ausstellung gegenüber zu zwingen, beschimpft ihn und droht. Bei solcher Schärfe, die durch die Leitung pfeift, werden alle Herumstehenden zu Lämmern.

In der Kinoteka läuft zu Bajram der Terminator I, den sie eigentlich spielen, um Leute auch für Abseitigeres ranzuholen, fast leer. An der unteren Stirnseite eines langgestreckten Tonnengewölbes ist eine Leinwand mit gerundeten Ecken angebracht. Die beiden Gasdüsen haben eher das flackernd blaue Licht eines expressionistischen Films als Wärme aufzubieten. Projiziert wird jeden zweiten Tag, wenns Gas gibt. Der Projektionsraum ist mit rotem Teppichboden beklebt, der intentionswidrig die Feuchtigkeit speichert. Der hagere, zahnlückige Vorführer stapelt Terminator und andere Akte um.


Am letzten Tag des Bajram gehen wir, weil L. noch Kuchen bringen will, in die Bibliothek, und die Sekretärin Bedita Islamovic zieht ihren Mantel noch mal aus. Die Bibliothek ist bei Beginn des Krieges zu 90% ausgebrannt. Die Bücher der weltweiten Sammelaktion für den Neuaufbau lagern noch in Slowenien, da das hiesige Ausweichquartier winzig ist.
Während wir mit dem Direktor Enes Kujundzic über die Situation in Deutschland seit der Wende sprechen (bisher hatte niemand danach gefragt), wird vor der Tür der Kuchen verteilt. Plötzlich lauschen alle einem Radio, das eine Herzattacke Izetbegovics bekannt gibt und zu einem Gespräch mit unterschiedlichen Einschätzungen dieses Mannes führt. Kujundzic hat eine humorvolle Sicht auf das populäre Loblied, in dem Alija Izetbegovic als Retter, Licht in der Dunkelheit und als Vater und Einiger des Volkes besungen wird; die Musik sei gut, aber die aus der Tito-Ära stammende Glorifizierung wolle gar nicht zu Izetbegovics' Charakter und Intention passen. Kleinlaut wirft Bedita Islamovic ein, es handele sich nicht nur um eine Huldigung an den Präsidenten, sondern um eine an alle 'Alijas', womit sie wohl die meint, die dem Angriff tatkräftig widerstanden haben. Frauen kommen auch bei dieser Frau in der Sache nicht vor. Lachend beschreibt Kujundzic die titoistische Heroisierungskultur: Tito bei der Parade, Tito im Schnee, Tito mit Kindern, Tito am Strand etc.. Dann zur UNHCR, sie seien mit ihren Büchsen, Wolldecken, Milchpulver und Medikamenten gekommen wie nach Somalia und hätten sich groß gewundert, daß Papier zum Drucken hier als Lebensgrundlage angesehen werde, Papier könne man doch nicht essen. In stolzem Humor berichtet er, daß Papier in der nächsten UN-Vollversammlung in die Liste der lebensnotwendigen Hilfsgüter aufgenommen worden sei.

Um zum Stadion zu gelangen, frage ich jemanden nach dem Weg. Wir stapfen zehn Minuten schweigend hintereinander durch den Schnee. Wo sich unsere Wege eigentlich trennen, sagt er 'Kava', und bald betreten wir eine dampfende Wohnung, in der gerade ein Baby gewickelt wird. Almir mit Kastenhaarschnitt, der stämmige Sohn des rotwangigen Gastgebers und Vater des Babies, hat vor Jahren an der Frankfurter Börse spekuliert. Auf die Frage, wie sich die Demark hier etabliert habe, erzählt er lachend, daß sie es als erste geschafft hätten, eine DM-Inflation in Gang zu setzen; überall in der Welt sei sie stabil, nur hier wären während der Belagerung ganze 120 von ihr gut genug gewesen, gegen ein Kilo Kaffee aufgewogen zu werden.
Momentan kümmert er sich um diie Organisation des bereits stadtbekannten U2 Konzerts im Frühjahr 97 im Stadion. Er zeigt Cibachromes vom beschriebenen event mit dem U2-Sänger im Obala Club. Bald möchte er wieder in das Haus in Grbavice ziehen, auf das er von der Frontlinie aus geschossen hat.

Ein Pförtner verwaltet den Schlagbaum zu den unter der Stadiontribüne abgestellten und umzuladenden Sattelschleppern. Seine Loge ist mit schwarz-grünen 50x100 Stücken Tartanbelags umstapelt.

Tempel des Vergessens Die Stadt und die Schuhe lösen sich im Schneeregen des Feiertags auf. Zarte Kristallgitter halten das Wasser mehrere Zentimeter hoch auf den Gehsteigen fest. Der Fußweg zum Bahnhof, zur Olympiahalle, zu den Friedhöfen in der flachen Talsohle endet, kaum begonnen, in einer neureichen Spelunke.

Von drei zusammenhängenden postmodernen Formteilkiosks ausgehend, ist sie ums vielfache zu einem großen flachen Raum erweitert. (K. war heute ganz still, und als L. das Wort für 'traurig' aus dem Wörterbuch heraussucht, zeigt er es für einen Moment in seiner ganzen Ausdehnung. Dann schweift sein Blick wieder auf die Militärkomödie im Monitor.) Hier ist Radio M so laut gestellt, daß die Felle des stillstehenden Schlagzeugs zur Vibration gebracht werden und die Geräuschhäcksel der Radiowerbung selbständig begleiten.

Da man Pizza bekanntlich mit allem belegen kann, kann man ihr auch mit Kecap die gewohnte Farbe verpassen. Sogar in diesem Tempel des Vergessens tropft es durch die Decke, und zwar auf die mit Hochspannung funktionierende Neondekoration. Sie legt den Ort in laszives rotes und cooles blaues Licht. (Mein Kopf kann es nicht lassen, die tropfende Neonröhre in einem gigantischen tödlichen Kurzschluß mit der Nässe des vollgesogenen Teppichbodens und meinen durchweichten Socken zu verbinden. Trotzdem kann ich mich nicht vom Fluß der Worte trennen, um wieder die Kristallgitter auf den Bürgersteigen loszutreten und der dort gespeicherten Nässe Durchgang zu den aufgeweichten weißgewaschenen Zehennägeln zu bieten.) Der Zweimeterkellner oder -unterchef befaßt sich mit den Leckagen über einer teuer gedeckten Tafel in einem dunkleren Winkel. Die Auflösung dieser Räume der kostspieligen Verblendung erfüllt mich mit Genugtuung. Beträfe die Demontage der Stadt nur diese Orte, würde ich sie Tati-mäßig begrüßen.


Bei der Eröffnung des Parteizentrums der Mehrheitspartei SDA (der muslimischen CDU) der Fotograf Dejan Vekic. Als Student der Akademie hat er als Dokumentarist in der Kommission für die Feststellung von Kriegsverbrechen gearbeitet und mußte zu allen Orten fahren, an denen gerade jemand angeschossen oder zerfetzt worden war.
Sie sitzen samt Bürgermeister und gutsituierten Sympathisanten in blaßlila Korbsesseln und werden von einer Queen mit Getränken und buntglasiertem Baklava bewirtet. Frauen turnen in den wunderbarsten Hüten und Make-Ups vor. Kurz beten sie: Bajram. Durch unsere gemeinsame Ansicht über die surreale Absurdität der Veranstaltung löst sich Deyans Schweigen in Lächeln und magerem Englisch. Resopalverkleidungen mit diagonalen grünen Dekors und aufgeklebten blaßlila Beschriftungen bestimmen die Einrichtung des Raums als Insel des Grauens. Die Abbruchkante/ die Grenze dieser Insel überschreitet man bereits beim Betreten der Toilette und beim Abgeben der Garderobe.
Die Garderobe eröffnet einen ungeheizten, notdürftig durch zwischengenutzte Spanplatten zugestellten Einblick in eine ehemalige Versammlungshalle. Gegen Pelzmäntel werden handgeschriebene Garderobenmarken auf einem irgendwie schrägstehenden Tisch der ersten Resopalgeneration ausgehändigt. Die Menschen scheinen diese Grenzen noch wie selbstverständlich wahrzunehmen. Diese Begrenztheit macht die Insel fast erträglich. Mit den Zimmerpflanzen und den bemühten Kellnern beschreibt die Situation eine Zukunft, die alles daran setzen wird, diese Grenzen zu beseitigen.

Unser mehrfach hinausgezögerter Abschied von der Stadt leitet sich durch den Versuch einer Reise ins knapp 20 km entfernte Pale ein.

Unsere Recherchen haben sich darauf beschränkt herauszufinden, daß ein Taxi von Ilidza aus fast zwei Stunden braucht und es weder einen Bus noch irgendein IFOR- oder UNHCR-Fahrzeug gibt, das uns an unserem letzten Tag mitnehmen könnte. Also wurde der Ausflug zu einer verschneiten Wanderung zum serbischen Kontrollpunkt auf der einsamen Hauptstraße nach Belgrad. Wie Außerirdische oder Idioten (wahrscheinlich außerirdische Idioten) passieren wir föderative Kontrollstellen. Aber das tief verschneite verlassene Niemandsland, das gleich hinter dem Tunnel bei der Altstadt als ländliche ehemalige Gebirgsidylle beginnt, nimmt kein Ende. Der zweite Tunnel wird als Bunker zum Schutz eines riesigen brummenden Aggregats benutzt. Ein Arbeiter putzt sich in einem der davorstehenden Container gerade die Zähne. Im nächsten Tunnel leben Hunde und werden von den Wachtposten mit Decken für die Welpen versorgt. Als in einem verlassenen Dorf immer noch keine jenseitige Kontrollstelle in Sicht ist, drehen wir die nassen Füße zurück in Richtung Stadt. Die drei gestrandeten deutschen Wintersportler landen rotwangig in einem Café. Dort werden meine Schuhe von einem freundlichen Menschen, dem nicht in den Sinn käme, wo sie so naß wurden, auf einem Gasofen gebraten. Wir dekonstruieren unseren letzten Tag selber.

Das sich in und um uns ausbreitende Feld hätte noch den Eckpunkt Pale benötigt. Die Heimat Sarajewischer Datschen, in dem auch die Tanovics eine besitzen / besaßen mutiert zur Hauptstadt der Republika Srbska, Ziel und Umschlagplatz der Teilnehmer der Grbavice/Ilidza-Trecks im Wintersport. Oder ist Pale das gar nicht?

K bringt uns in ein unsichtbares Restaurant, dessen Kunden den Schlüssel zum Hauseingang besitzen. Südeuropäisch fest umschließt ihn seine Kleidung wie ein Panzer, ein eleganter, bis zum obersten Knopf geschlossener Mantel, schwerer Gürtel, Reißverschluß, hochgeschnürte Schuhe, Rollkragen unterm Pullover, alles eng über- und ineinandergeschichtet. Nicht das hängende Zeug, in das wir unsere Körper einschlagen. Eine Gruppe gutsituierter Männer um einen Tisch mit Kerze spricht raumfüllend. Sonst ist alles still. Wir flüstern und zeichnen unsere Unterhaltung auf Papier, wir essen je 2½ Ziegelsteine, die wie Fischstäbchen aussehen, aber mit Käse gefüllt sind. Auf halbem Weg bemerke ich, daß der Senf Mayonnaise ist, Pivo.

K. will sein Hi8 Band noch schneiden. Wir betreten den Hof, und er sagt: no electricity. Alles ist still. Im Büro ist nur das Geräusch der in den Holzofen gesteckten Gasdüse zu hören und erfüllt den Raum mit flackernd blauer Hitze. Der schlacksige Hund tapst verschlafen wankend, aber dann doch bellend von seinem Sofa heran. Das obere Fenster ist dauerhaft geöffnet und statt seiner ein Blech mit einem runden Ausschnitt für das herausgeführte Ofenrohr eingesetzt.
Später sind die Straßen still. Sperrstunde. Gefrorener Schneematsch harscht unter unseren Schritten. Kaum Autos. Ein Wall gehäuften Schnees verengt die Straße. Da stellt eins seinen röhrenden Motor ab. Das glasklare Geräusch der Türen und des Auspackens von Kartons auf dem Gehsteig. Es gibt kein Taxi für ihn. Nirgends. Es wird geschossen. Am nächsten Tag erzählt man, es seien Böller der abziehenden Tschetniks gewesen.

Im Bus Radio. Da die Fahrspur im Schnee einbahnig geworden ist, warten wir vor Behelfsbrücken auf den zeitlupen-langsamen Gegenverkehr. Für das Umfahren der Schlag- und Granatlöcher über dem Fluß ist die lange ungelenke Gurke, in der wir sitzen, nicht gerüstet. Ein Rad hängt nach einem abgerutschten Stück Straße in der Luft, der Bus steht schräg, und das Rad rutscht lange herum an der Stufe zum Fahrdamm hinauf.

Die beiden Freunde verlassen den Bus am Meer. Hinter Split versinke ich in verrauchten Träumen und Bildern der Stadt und der letzten Nacht, bis zu einer Rast in einer völlig schwarzen Einöde in einem fast ebenso dunklen Lokal, dessen Einrichtung zu 90% aus Monoblockstühlen besteht. Man tut gut daran sich vollständig austrocknen zu lassen, um weiterhin nicht aufs Klo zu müssen. Das neuerfundene Video schießt seine Laserkanonen noch schweigend durch das Schwarz.

Auf den wenigen Bänken des Zagreber Bahnhofs sitzen und liegen Obdachlose, manche von ihnen können nicht schlafen und schleichen zwischen den Dösenden hinundher, Flaschen kullern, knarzende Schwingtüren, drei Kinder rasen durch die Gänge. Ein Jugendlicher schläft in einem aufgeschobenen leeren Schaukasten hängend. Ich entschließe mich für den Boden der leeren überheizten Fahrkartenhalle der ersten Klasse mit Beatles autoreverse und Schnarchen hinterm Schalter. Als ich aufwache, macht die Schlange der Anstehenden einen Bogen um meine ausgestreckten Beine. Die Bilder des schwarzen stillen Busses sind fast verschwunden.

Ich warte mit einer Frau, die seit drei Flüchtlingsjahren in Wien zum ersten Mal wieder in Sarajewo gewesen ist. Sie habe früher in einer Siedlung des Militärs gelebt, mit den 25 anderen Mietern habe sie den immer beschworenen guten Kontakt gehabt. Bei Hausdurchsuchungen seien in serbischen Wohnungen Waffen gefunden worden, die sie von der Nationalarmee einige Monate vorher ausgehändigt bekommen hatten. Den Gerüchten darüber habe sie bis dahin keinen Glauben geschenkt. Innerhalb kurzer Zeit fuhren fast alle Familien mit dem Nötigsten im Pkw weg. Haben sie sich verabschiedet? Nein. Seien einfach gefahren. Drei Familien blieben in dem Block. Das unausweichliche Training, das sie den Fragen der Fremden gegenüber hat, bewirkt eine gewisse Typisierung der Antworten. Vielleicht ist der 'gute Kontakt' wirklich nicht vergleichbar mit dem eines deutschen Mietshauses, in dem die Mieter sich nicht streiten. Die Kopftuchflüchtlinge vom Lande, die jetzt in der Stadt leben, schätzt sie nicht besonders.

Bevor ich den Zug nehme, trage ich noch das kleine schwere Päckchen des Professors Imamovic am botanischen Garten vorbei durch die schlafende geschniegelte k.u.k. Stadt. Seine ehemalige Frau und die von Freitagnacht übermüdete Tochter leben bei der Großmutter. Sie habe nach Beginn der Belagerung von ihrem Büro im Gericht aus noch Vorladungen für Zeugen verschickt, da sie nicht an eine Dauerhaftigkeit gedacht habe. Mit den moslemischen Namen der Kinder hätten sie Schwierigkeiten
gehabt, einen Platz im Auswanderungskonvoi nach Kroatien zu bekommen. Sie spricht über die von Polizisten umringten mageren streikenden Bahnangestellten hier und über den Glanz, den die Kriegsgewinnler nach Zagreb gebracht haben.

Daß zwei deutsche Damen im kroatischen Speisewagen nach jugoslawischen Spezialitäten fragen, zwingt den verschlossenen Kellner zur Richtigstellung. Die Frau mir gegenüber warnt mich vor der Abschüssigkeit meines Sitzes, und zwei alleinreisende Zehnjährige beschweren sich beim Schaffner darüber, daß die deutsche Telefonkarte im Zug nicht funktioniert. Humorvolle Angelegenheiten nach dieser Reise. Einen größeren Teil der kommenden Nacht habe ich auf dem Bahnhof in Fulda zu verbringen, da irgendwelche Anschlüsse nicht stimmen.


* Ustascha-Extremismus in der heutigen Zeit (wikipedia)

Seit der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens Anfang der 1990er Jahre versuchen einige rechtsgerichtete politische Gruppen an die Tradition der Ustascha anzuknüpfen. Von offizieller Seite wurden vor allem zur Zeit des verstorbenen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman zwar die Verbrechen der Ustascha weiterhin verurteilt, gleichzeitig wurden ihnen aber teilweise ehrenwerte Motive als Unabhängigkeitskämpfer zugeschrieben. Während der Jugoslawienkriege bezogen sich einige kroatische bewaffnete Gruppen, die gegen Serben und Bosniaken kämpften, positiv auf die Ustascha und bezeichneten sich selbst teilweise auch mit diesem Namen. Einige Personen aus solchen Verbänden müssen sich heute vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal verantworten.

In Kroatien ist seit 1991 das Tragen und Zurschaustellen von Symbolen der Ustascha strafrechtlich bewehrt. Trotzdem gestehen noch immer viele Kroaten den Ustascha ehrenwerte Motive zu. Extremistische Äußerungen sind teils gegen die Regierung, teils gegen äußere Einflüsse gerichtet und können auf die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Auswirkungen der Globalisierung, dem wirtschaftlichen Strukturwandel und dem schwierigen Übergang von der kommunistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, den Auswirkungen des Kroatien-Krieges, der steigenden Armut, geringen Pensionen, dem immer noch ausstehenden EU-Beitritt, einem Mangel an Perspektiven für die jugendliche Bevölkerung, uvm. zurückgeführt werden.[3]

Diese allgemeine Unzufriedenheit führt dazu, dass in extremistischen Kreisen, aber teilweise auch in gemäßigt-konservativen Kreisen, die öffentliche Zurschaustellung von eindeutiger Ustascha-Symbolik als akzeptabel und normal angesehen wird. Aussprüche wie "za dom spremni" (deut. etwa "allzeit bereit für die Heimat"), denen ein faschistischer Hintergrund nachgesagt wird, sind zunehmends bei sportlichen Veranstaltungen zu beobachten.[4] Ebenso wird bspw. dem Sänger Thompson, dessen Liedgut sich hauptsächlich durch konservativ-patriotische Texte auszeichnet, erste Berühmtheit aber zu Zeiten des Kroatienkriegs mit teilweise nationalistischen Liedern erlangte, Toleranz der Ustascha-Symbolik vorgeworfen, obgleich er sich inzwischen davon distanziert.[5]