Zwei Jahre
nach Verleihung der vollen Bürgerrechte für deutsche Juden kauft
Herrmann Müller das Gut auf dem zugigen Rücken im Sand und bereitet
eine Generation, die zwanzig Jahre später kaum noch exisiteren wird,
auf das Leben in Palestina/Israel vor (Hachscharah = hebr. Vorbereitung).
Im Wind des 24.März 2009 findet man einen Ort, der sich bescheiden
im geliehenen Stillstand eingerichtet hat. In einer großen Menge
landwirtschaftlicher Einrichtungen aus Ostzeiten haben sich Siedlungsinseln
gebildet, bzw. erhalten. Mietwohnungen in drei verschiedenen Gebäuden,
eine Reihe intensiv gepflegter umfriedeter Kleingärten, eine Stallgemeinschaft
mit 13 Pferden und einige sporadisch genutzte Räume.
In den Zweigen hoch im Himmel des unbelaubten Hains, rauscht der Wind
wie eine Fabrik und wird anfallsweise zu Sturm. Der Wind ist es auch,
der die Situation innerhalb von Minuten von melancholischem Abendlichtspiel
in zerrende Herbst- und Schneestürme verwandelt und dem Körper
ungefragt historisches Verständnis abverlangt. Der Körper nimmt
das gerne, denn er hat schon aus den Baracken des Ostens und aus der vermeindlichen
Tatenlosigkeit der TLG, historisches Verständnis entwickelt.
Dieses so entstandene global-physisch-visuell Historische speist sich
aus dem Sichtbaren, also dem Feldsteinmauerwerk und variantenreich geschichtetem
Nachkrieg und überspringt damit erstmal die den Ort maßgeblich
prägenden Zeitabschnitte, das jüdische Landwerk und das Zwangsarbeitslager.
Aber die Beschaffenheit des Ortes ermöglicht es, ihn im alt-fernöstlichen
Sinne (bzw auch im Sinne des Energieerhaltungssatzes und einer biologischen
Sicht) zu sehen und zu erfahren.
|
Statt
Verschwinden verstehen wir hier Transformation, also Kontinuität,
nichts hat eine Chance zu verschwinden, allenfalls fällt es aus dem
Bewußtsein heraus.
Das sagt der Ort und in dem Sinne
ist er außergewöhnlich reichhaltig. So stark, dass man als
Besucher dazu neigt, die dort wie Geister durch den Wind huschenden Menschen
als Staffage der Geschichte anzusehen. Aber jeder hier im Land kann sich
als diese Staffage der Entwicklung verstehen. Dieses Charakteristikum
rückt etwas gerade im 2009 allgegenwärtigen Medien-Narzismus.
Trotzdem leben. Unbequem eingebettet leben.
Als ich einem australisch-chinesischen Freund einen Besuch in Oranienburg/Sachsenhausen
beschrieb, meinte er, es wäre besser gewesen, die Menschen nach dem
Kriege an einen leichteren Ort umzusiedeln. Oranienburg/Sachsenhausen
ist tätsächlich ein so schwerer Ort und so nachhaltig vom Grauen
besetzt, dass man sich die Einwohner dort kaum anders als in ihrer Rolle
als Angestellte der Erinnerungskultur vorstellen kann.
In Neuendorf im Sande scheint es aber möglich, statt als Staffage
als Eingebundener zu leben.
Zumindest bis das Gut dem Wandel des Besitzerwechsels mit ungewissem Ausgang
anheim gegeben wird.
Vergleicht man die Lagerbaracke der Nazizeit mit den Baracken sozialistischer
Landwirtschaft und hat die Intention, aus der Visualität Qualitatives
herauszufiltern, wird man in die Irre geleitet: Wo man auch hinkommt,
das Grauen ist unvergleichlich deutlicher in den DDR-Anlagen zu lesen
als in den einfachen Holzhäuschen der Nazizeit. Die daraus notwendig
werdende Selbstbefragung beim Wahrnehmen des Ortes verstärkt das
Fühlen eher als dass es durch diese doppelte Irritation geschwächt
würde.
|